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Über die Erarbeitung von Werten, Vision und Purpose in Organisationen …

Dr. Stefan Barth
| Chief Operating Officer, Qvest Digital AG
Veröffentlicht 25. Januar 2024

Mein zweiter Newsletter in diesem Jahr beschäftigt sich mit dem Thema #Werte#Vision und #Purpose in #Organisationen.

Wenn ich mir die Mühe mache, diese sehr abstrakten Aspekte niederzulegen, welche Bedeutung haben sie für die Organisation? Welche Wirkung können sie entfalten? Welcher Schaden kann enstehen? Mein Blick darauf ist sehr kritisch. Dennoch komme ich zu einem versöhnlichen Schluss (hoffentlich einigermaßen wohl begründet).

In der Vergangenheit fühlte ich mich immer versucht (und es war auch nicht selten Teil des Auftrags), am Anfang eines Veränderungsprozesses in einem aufwendigen Verfahren die motivatorischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Das umfasste wenigstens die Formulierung einer Vision, häufig die von Werten, seltener noch die des Purpose. Ich verwende hier bewusst den englischen Begriff “Purpose”, weil die direkte Übersetzung in Form von “Zweck” zu wenig die Sinnaufladung wiedergibt, die in dem englischen Pendant enthalten ist.

Inspiriert war dieses Vorgehen von Ideen vom Simon Sinek [1] oder dem Transformationsvorgehen von John Kotter [2]. Es erscheint ja auch wirklich plausibel, Menschen vorweg Orientierung zu geben, sie auf ein Ziel einzuschwören, gemeinsame Grundregeln zu formulieren, wie zusammengearbeitet werden soll, weniger prozessual als auf einer zwischenmenschlichen Ebene. Und eben auch die Klärung herbeizuführen, “warum” wir das alles tun …

Die Erfahrungen, die ich mit diesem Vorgehen gemacht habe, lassen mich mittlerweile differenzierter darauf blicken. In machen Kontexten entsteht Nutzen, in manchen erscheint es mir sogar so, dass Komplexität erhöht wird.
 

Der Erstellungsvorgang birgt potenziellen Nutzen

Zunächst einmal habe ich festgestellt, dass die unmittelbare praktische Umsetzung des Versuchs, Vision, Werte und Purpose niederzulegen, in der einen oder anderen Form hilfreich sein kann - für mich als Berater und für die beteiligten Kräfte der Organisation.

Ich als Berater, der ich dem Erstellungsprozess den Rahmen gebe, profitiere davon, Informationen aufzunehmen, Kommunikationen zu erleben, die bei einer rein sachorientierten Diskussion auf der Arbeitsebene mir nicht ohne weiteres zugänglich sind. Dies hilft mir gerade in der frühen Phase des Beratungsprojekts (und diese Diskussionen stehen ja typischerweise eher am Anfang) mein Organisationsverständnis zu schärfen.

Die direkt in dem Prozess involvierten Mitarbeiter können in unterschiedlicher Weise Nutzen aus dem Vorgang ziehen. Die Effekte, die ich beobachtete sind heterogen, so dass ich nicht in der Lage bin, Regeln abzuleiten. Deswegen möchte ich bei Beispielen bleiben:

  • Ein Team von Menschen in Projektverantwortung stellten bei der Formulierung eines gemeinsamen Purpose für sich fest, dass sie eigentlich kein Team sind. Sie vereinte eine fachliche Expertise - darüber hinaus aber wenig. Diese gemeinsame Klärung war in der Folge in der Ausgestaltung der Zusammenarbeit sehr nützlich.
  • Ich konnte einem Managementteam bei der Diskussion von Werten, die ihnen jetzt und in Zukunft wichtig sind, klar machen, dass sie angesichts dieser Wertvorstellungen (und von Werten kann man sich erfahrungsgemäß schlecht lösen) nicht versuchen sollten, Teams mit einem hohen Grad an Selbstorganisation zu etablieren.
  • Die Diskussion einer Vision in einem Managementteam zeigte auf, wie heterogen das Bild auf die Organisation und den Geschäftszweck war. Die Herbeiführung eines gemeinsamen Verständnisses der Ausrichtung brachte dem Team und nachgelagert auch der Organisation Wert.

Das Gesagte lässt ein Bild dahingehend Gestalt annehmen, wie durch den Versuch der Konkretisierung und Einigung in der Erstellung der jeweiligen Zielartefakte tatsächlich punktuelle, zuvor im Verborgenen gelegene Fragestellungen ans Licht gezerrt und beantwortet werden können. Daraus entsteht nach meinem Empfinden in jedem Fall Nutzen.
 

Der langfristige Effekt

In der Praxis habe ich es dann als äußerst problematisch wahrgenommen, mit den mühselig erstellten die Artefakten - Vision, Werte, “Purpose” - tatsächlich in der weiteren Entwicklung zu arbeiten. Dabei gestalteten sich die Herausforderungen tatsächlich in unterschiedlicher Weise in Abhängigkeit davon, über welches Arbeitsergebnis wir sprachen.

Werte

In der Wertediskussion verbergen sich aus meiner Sicht mehrere Schwierigkeiten. Zum einen werden, ganz unabhängig vom Vorgehensmodell, in der Regel immer neue Unternehmenswerte erzeugt, die in aller Regel in der Organisation wenig oder gar nicht verankert sind.

Zum anderen wird die Heterogenität der Wertestrukturen innerhalb der eigenen Organisation häufig massiv unterschätzt. Die gelebten Werte im Umgang miteinander sind je nach Abteilung und Team massiv unterschiedlich und können ohnehin nur bestenfalls zum Teil mit zentral formulierten Werten in Überdeckung gebracht werden. Dieser Aspekt macht die Formulierung zentraler Werte als Orientierung nicht überflüssig, muss jedoch immer berücksichtigt werden, wenn ich in Folgeschritten auf Werte referenziere, da die lokale Diskrepanz zur Wunschvorstellung stets unterschiedlich ist.

Während diese Wertediversität vor allen Dingen die Komplexität erhöht, erwachsen aus der erstgenannten Herausforderung grundsätzliche Fragen. Wie sind neue Werte überhaupt operationalisierbar? In aller Regel sind Führungskräfte, denen ich in Wertefragen durchaus einen Vorbildcharakter unterstelle, in der Erarbeitung der Werte ja involviert. Wenn die neuen Werte deutlich von der gelebten Wirklichkeit abweichen, so stellt sich ganz unmittelbar die Frage, was die Führungskräfte nun anderes machen müssen, um in ihrem Verhalten auf das neue Wertebild einzahlen zu können. Und können sie das überhaupt authentisch? In der Vergangenheit ist es ihnen ja offensichtlich nicht gelungen …

Diese Überlegung macht deutlich, dass wir entweder im Führungsteam auf eine hohe Bereitschaft zur persönlichen Weiterentwicklung treffen müssen oder aber grundsätzliche, strukturelle Veränderungen durchzuführen sind, um das Wertesystem zu verändern. Auch der Faktor Zeit wird hierbei deutlich unterschätzt.

Und eben weil dieser Prozess, unabhängig davon, ob wir auf Personen- oder Strukturebene denken, so tiefgreifend ist, bleibt die Wertediskussion häufig, wie der Systemtheoretiker sagen würde, auf der Schauseite der Organisation hängen. Tritt dieser Fall ein, so korreliert der entstandene Schaden mit der Lautstärke, mit der ich intern die Neufassung der Werte voran getrieben habe.

Jede Organisation, die Wertedeklarationen in den Besprechungsräumen hängen hat, die nicht gelebt werden, hat diesen Prozess bereits durchlaufen und sich erstmal gegen weitere Veränderungen auf dieser Ebene immunisiert.

Wenn ich auf eine solche Situation treffe, bin ich mittlerweile geneigt, erst einmal die Diskussion aufzunehmen, warum das bestehende Wertekonstrukt nicht gelebt wird, bevor ich die Erarbeitung eines neuen begleite.

Treffe ich auf eine noch unbefleckte Organisation, so versuche ich aufzunehmen, was denn das aktuelle, wahrgenommene Wertesystem ausmacht. Dann kann man die Frage stellen, welche (kleinen) Veränderungsimpulse in welche übergeordnete Grundrichtung gewünscht sind (und aus welcher Motivation heraus). Gelingt es hier ein einigermaßen konsistentes Bild zu entwickeln, so lassen sich erwartete Handlungsmuster ableiten und implementieren, die in einem ersten Schritt auf die veränderten Werte einzahlen. Aufgrund mangelnder Planbarkeit müssen diese Muster immer wieder überdacht werden, was umso schwieriger ist, da Unternehmenswerte keine Fortschritts-KPI kennen. Und letztlich gilt auch hier wieder: Dies erfordert Veränderung von jedem Einzelnen, insbesondere von den Führungskräften. Inkonsistenzen werden sofort durch Glaubwürdigkeitsverlust bestraft und Durchhaltevermögen ist vonnöten.
 

Vision

Halten wir mal kurz inne … kennst Du die Vision von dem Unternehmen, für das Du arbeitest? Welche Bedeutung hat sie für Dich? Ich würde die These aufstellen, dass mehr als 50%, eher mehr als 80% der Mitarbeiter die Vision ihres Unternehmens nicht kennen. Bei Gelegenheit werde ich das auch bei uns mal abfragen …

Als ich 2013 bei der Qvest Digital (damals tarent) meine Tätigkeit als Vorstand aufnahm, haben wir in einem partizipativen Prozess die Vision neu formuliert. Im Nachhinein war das Ergebnis interessant: Die Vision spiegelte das wieder, was die Mitarbeiter glaubten, in dem vergangenen Jahrzehnt verloren zu haben: die intensive Teilhabe in einer Open Source Gemeinschaft, Familiarität und sozialer Raum aus einer Zeit, als das Unternehmen zwischen 50 und 80 Mitarbeitern hatte (2013 waren es bereits 130). In der Praxis folgte niemand in der Organisation dieser Vision. Ihre Existenz hat aber den Menschen im Erstellungsprozess Halt gegeben (siehe Abschnitt 1), danach hat sie jedoch keine Entwicklung aufgehalten und sie wirkte zu keinem Zeitpunkt als Leitlinie für das Handeln von Menschen in der Organisation.

2017 waren wir an einem Punkt, die Vision neu zu formulieren. Diese war (und ist - wir haben sie seitdem nicht mehr angefasst) zukunftsgewandter, sie ist allerdings auch so allgemein, dass sie für uns als Digitalisierungsdienstleister kaum Leitliniencharakter entfaltet - ausgenommen vielleicht in der Frage, wie wir zusammenarbeiten wollen. Auch eine Positionierung als Lebensmitteleinzelhändler oder Bauunternehmer ist ausgeschlossen. Eine strategische Dimension in der Unternehmensentwicklung entfaltet sie aber nicht.

Das was ich jetzt hier, sehr bezogen auf uns selbst, beschrieben habe, beobachtete ich in ähnlicher Weise bei anderen Unternehmen. Die entwickelten Visionen sind weichgespült bis zur Unkenntlichkeit, spiegeln Sehnsüchte wieder, die nicht befriedigt werden, verkommen zur Bedeutungslosigkeit und werden vergessen. Wenige Ausnahmen mögen diese Regel bestätigen.

Je nach Organisation hat diese Irrelevanz der Vision für die Mitarbeiter unterschiedliche Gründe.

  • In einer eher klassischen, hierarchischen Organisation kann die Vision keine Bedeutung für die Mitarbeiter haben, da sie im wesentlichen der Steuerung der ihnen vorgesetzten Ebene unterliegen. Sie kommen gar nicht in die Situation, selber eine Entscheidung fällen zu müssen, bei der sie auf so etwas Abstraktes wie die Vision zurückgreifen müssten, um eine Orientierung in ihrer Entscheidungsfindung zu erhalten.
  • In einer mehr partizipativen Organisationsform gibt es neben der Vision im Tagesgeschäft viel eher unmittelbare, taktische und strategische Entscheidungskriterien, die aus dem Geschäftsmodell erwachsen und bei der Ausrichtung des Handelns helfen. Die Vision wird auch hier nicht benötigt.

Betrachten wir die Führungsebene einer Organisation - unabhängig wie sie aufgestellt ist - ließe sich argumentieren, dass diese die Strategie aus der Vision ableitet. Machen wir das wirklich? Die Vision kann ja nicht sinnvoll vom Unternehmenszweck entkoppelt sein und letzterer liefert immer viel konkretere Orientierung, als es eine Visionsformulierung leisten könnte. Denken wir an die Genese der Vision: Die Vision folgt aus dem Geschäftszweck, nicht umgekehrt. Sie ist nur die schillernde Verpackung desselben.

Abschließend komme ich für mich zu dem Urteil, dass die Visionsformulierung zur Herstellung eines gemeinsamen Verständnisses der Unternehmensausrichtung und des Geschäftszwecks dienlich ist. Die Dienlichkeit liegt aber maßgeblich in dem Prozess selbst, nicht in dem Ergebnis in Form eines schillernden Statements.
 

Purpose - der Sinn und Zweck

Kommen wir zu dem aus meiner Sicht schwierigsten Themenkomplex in dem Dreiklang Werte, Vision und Purpose - dem Purpose.

Aus meiner Perspektive bewegt sich der Purpose potenziell auf drei Ebenen:

  • der des Individuums - warum arbeite ich hier? Was treibt mich an?
  • der des Teams - welchen Beitrag liefert das Team? Warum gibt es das Team?
  • der des Unternehmens als Ganzes - welchen Beitrag liefert das Unternehmen in der Gesellschaft?

Beginnen wir mit der Individualebene. Ich empfinde es als ein wichtiges Ziel der Personalentwicklung, Menschen in Rollen zu versetzen, denen sie Sinn beimessen. Nicht nur in der Funktion für das Unternehmen, sondern auch für sich persönlich. Dies spielt sich jedoch im inneren Verhältnis der Führungskraft und des Mitarbeiters ab. Aus unternehmerischer Sicht kann ich hier nur insofern einen Beitrag leisten, als dass ich die Rahmenbedingungen dafür schaffe: Die Führungskraft muss die Qualifikation besitzen, die entsprechenden Gesprächsebenen öffnen zu können und die Organisation muss die Freiheitsgrade zur individuellen Weiterentwicklung bieten. Eine Sinnvorgabe kann ein Unternehmen aber keinesfalls leisten - vielmehr ist es so, dass wenn ein Mitarbeiter keinen hinreichenden Sinn in seiner Tätigkeit entdecken kann und dies sich auch nicht ändern lässt, dann sollten eher getrennte Wege ins Auge gefasst werden.

Auf der Teamebene halte ich die Auseinandersetzung darüber, warum es ein Team gibt und welchen Beitrag es leistet, für selbstverständlich. Die Einordnung des eigenen Handelns in den Wertstrom ist je nach Organisationsform Aufgabe der Führungskraft oder des Teams selbst. Dazu gehört zwingend auch das Hinterfragen, inwieweit die einzelnen Tätigkeiten tatsächlich auf einen optimierten Wertstrom einzahlen oder ob es sich um Selbstbeschäftigung oder Aktivitäten handelt, die auf den Geschäftszweck einzahlen.

Sobald ich vom einzelnen Menschen abrücke und soziale Konstellationen der Zusammenarbeit betrachte, fällt mir eine differenzierte Betrachtung von Purpose und Vision tatsächlich schwer, denn auch der Vision wird ja neben der zielgebenden häufig auch eine sinnstiftende Komponente beigemessen.

Auf Unternehmensebene wird die Abgrenzung von Vision und Purpose für mich noch schwieriger, es sei denn, ich lade die Vision nochmals bewusst zusätzlich mit der Erwartung einer Sinnstiftung für meine Mitarbeiter auf. Hier drohen aber potenziell zwei Gefahren.

Entweder empfinden die Mitarbeiter das als übergriffig und tuen es als Marketing ab, dann ist im besten Fall damit nichts gewonnen, im schlechtesten Fall erzeuge ich Distanz. Folgen Sie jedoch mit Begeisterung dem Leitstern, so muss das Unternehmen sich im Klaren sein, dass es diesen Erwartungen auch gerecht werden muss. Je stärker ich ein Thema auflade und Gefolgschaft erwarte, desto größer ist auch die Lieferverpflichtung, wenn ich nicht massive Enttäuschung erzeugen möchte. Dies heißt nicht, dass ich mich dem nicht stellen wollte - man muss sich dessen nur bewusst sein, gerade auch im Hinblick darauf, welchen eigenen Handlungsspielraum man als Führungskraft tatsächlich hat.

Ich komme zu dem Schluss, dass ich von der Formulierung eines Purpose, sozusagen als “Vision +” Abstand nehmen würde. Auf der Mitarbeiterebene ist es, wenn nicht Teil der individuellen Personalentwicklung, übergriffig, auf Teamebene integraler und nicht zwingend expliziter Teil einer kontinuierlichen Teamentwicklung. Auf Unternehmensebene droht für mich immer die Gefahr, etwas darstellen zu wollen, was man letztlich nicht ist oder langfristig durchhalten kann.
 

Neoinstitutionalismus und “Sensemaking” in Organisationen

Meine Erfahrungen mit dem diskutierten Thema decken sich in interessanter Weise mit Überlegungen, die an anderer Stellen geäußert werden und teils aus anderen Denkrichtungen kommen. Gemein haben sie, das sie, ebenso wie ich, nicht ganz so populär sind, wie Simon Sinek oder John Kotter.

Der Organisationsforscher Karl E. Weick sieht Organisationen als “sensemaking systems”, die unaufhörlich damit beschäftigt sind, sich eine Vorstellung von sich selbst zu machen, die vernünftig und handhabbar zu sein scheint [3]. Er stellt über die Möglichkeit, den Sinn einer Organisation in Worte zu fassen, fest:

“Once put into words it is constrained and framed by those same words because they are approximately what they refer to. Often words have multiple meanings, so all the time people are working with puns. Further, words are inclined to convey discrete categories: they are not equal to depicting the unbroken, complex flow of life in organizations.” [3]

Aus seiner Perspektive werden die schriftlichen Artefakte der Komplexität von Organisationen in ihrer Entwicklung nicht gerecht, suggerieren mehr Klarheit, als dass sie Klarheit schafften und - dies wird an anderer Stelle deutlich - verstellen den Blick auf zukünftige Herausforderungen.

Aus völlig anderer Richtung kommend findet sich Kritik z.B. in der Dissertation von Markus Schönemann und den von ihm referenzierten Grundlagenarbeiten [4]. Er betrachtet bestimmte organisationelle Phänomene, darunter auch beispielhaft ausgerufene Kulturinitiativen ohne Wirkung, im Kontext des Neoinstitutionalismus. Hier wird die Perspektive verfolgt, dass Unternehmen nicht allein durch ihren Geschäftszweck, sondern auch durch externe Institutionen und gesellschaftliche Erwartungen beeinflusst werden. Diesen gegenüber müssen sich die Organisationen einerseits legitimieren, andererseits dürfen die eigenen wirtschaftlichen Ziele nicht aus den Augen verloren gehen. Stehen die äußeren Ansprüche in einem potenziellen Konflikt mit den organisationseigenen Zielen und Charakteristika, findet eine Entkopplung statt.

Diese Entkopplung zeitigt die Wirkung, dass den äußeren Ansprüchen augenscheinlich genüge getan wird, die internen Abläufe jedoch kaum tangiert bleiben.

Diese Perspektive kann meines Erachtens auch auf die Fragestellung dieses Artikels übertragen werden. Werte, Vision, Purpose sind Themen, die vielleicht weniger gesellschaftlich, als vielmehr von einer fortgeschrittenen scheinenden, Silicon-Valley-artigen Managementkultur vorgelebt werden. Hierdurch entsteht Druck in der Führung, der eigenen Organisation einen ähnlichen Anstrich zu geben, wenn auch womöglich ohne die abschließende Überzeugung, dass dadurch Wert entsteht. Die Einführung dient allein der äußeren Legitimation. Dies ist die Grundlage für die Entkopplung und die proklamierten Werte, Vision und Purpose zeigen keine Wirkung.
 

Und doch: Es lohnt, darüber nachzudenken

Meiner Überzeugung nach findet demgemäß eine mühselig erstellte Dokumentation von Werten, Vision und Purpose im Nachgang der Erstellung selten eine echte Nutzung in der Organisation. Beim Purpose würde ich sogar auf die Erstellung verzichten und lieber Menschen- und Teamentwicklung in der Organisation verstetigen.

Tatsächlich bergen Operationalisierungsversuche eher Risiken als Chancen. Dies gilt insbesondere dann, wenn den Arbeitsergebnissen öffentlichkeitswirksam große Bedeutung zugeschrieben wird, eine Anschlussfähigkeit an das Tagesgeschäft jedoch nicht sichtbar wird.

Zum Abschluss möchte ich in Rückbezug auf das, was ich eingangs sagte, noch versöhnliche Worte finden, auch wenn diese Perspektive in dieser Ausführung nicht dominiert.

Im ersten Abschnitt drücke ich aus, dass durch einzelhafte, positive Erfahrungen, bei mir der Eindruck entstand, dass die bewusste Auseinandersetzung mit den Themen Werte, Vision und Purpose positive Effekte auslösen kann. Gerade in Teamkonstellationen, die nicht gewohnt sind, Selbstreflektion zu üben (und das ist gerade bei Führungsteams leider viel zu häufig der Fall), führt die Diskussion um diese Themen an Grundsatzfragen heran, denen gerne im Tagesgeschäft ausgewichen wird. Eine Klärung schafft zumindest in den betroffenen Teams ein höheres Maß an Klarheit und sei es nur in der teaminternen Zusammenarbeit. Dieser Nutzen ist aus meiner Sicht unbestreitbar.

Und in diesem Sinne werde ich weiterhin entsprechende Workshops durchführen.
 

Quellen

[1] Sinek, Simon, “Start with why”, Penguin Books, 1st edition, 2011

[2] Kotter, John, “Leading Change”, Vahlen, 1st edition, 2013

[3] Pugh, Derkek S.; Hickson, David J., “Writers on Organization”, Chapter “Karl E. Weick”, Penguin Books, 6th edition, 2007

[4] Schönemann, Markus, “Entkopplungsphänomene bei der Umsetzung institutionalisierter Managementkonzepte”, Dissertation an der Universität Kassel, 2020